Blank Patterns
..."Ist Leere Form, und Form Leere? Oder sind dies nur zwei verschiedene Zustände ein und derselben Sache, so wenig von einander zu trennen wie Teilchen und Welle, oder, noch aktueller, wie Materie und Energie in einem String-Universum?"...
Prof. Ursula Panhans-Bühler
Blank Patterns 9, 2011, Mischtechnik, 61 x 73 cm
Blank Patterns 23, 2018, Mischtechnik, 70 x 48 cm
Blank Patterns 24, 2018, Mischtechnik, 23 x 30,5 cm
Blank Patterns 25, 2018, Mischtechnik, 30,5 x 23cm
Blank Patterns 22, 2015, Mischtechnik, 73 x 61 cm
Blank Patterns 21, 2011, Mischtechnik, 73 x 61 cm
Blank Patterns 16, 2013, Mischtechnik, 30,5 x23 cm
Blank Patterns 2, 2012, Mischtechnik, 74 x 52 cm
Blank Patterns 4, 2012, Mischtechnik, 51 x 73 cm
Blank Patterns 6, 2012, Mischtechnik, 51 x 73 cm
Blank Patterns 7, 2012, Mischtechnik, 51 x 73 cm
Blank Patterns 8, 2012, Mischtechnik, 74 x 52 cm
Blank Patterns 12, 2012, Mischtechnik, 47 x 34 cm
Blank Patterns 13, 2012, Mischtechnik, 47 x 34 cm
Blank Patterns 14, 2012, Mischtechnik, 47 x 34 cm
Blank Patterns 15, 2012, Mischtechnik, 47 x 34 cm
Blank Patterns 7, 2012, Mischtechnik, 51 x 73 cm
Pausieren im Schwingungsraum
Prof. Dr. Ursula Panhans-Bühler
In der hier vorgelegten Serie von Zeichnungen mit China-Tusche und Acrylfarbe auf mild weißem Bütten Papier sucht Dieter Haist eine überraschende Passage im Verhältnis von künstlerischer Form und Bildträger. Diese basiert einerseits auf seiner langjährigen Erprobung möglicher Varianten der Spannungsbeziehung zwischen Fläche und Raum, der Interaktion von bildnerischen Zeichen und Bildfläche, wie sie zum Fundament der klassischen Moderne geworden war, die traditionell zentralperspektivische Ordnungen dieser Beziehung auf unterschiedliche Weise produktiv in Frage gestellt hatte. Andererseits wurde die Passage ausgelöst durch die Erfahrung des Künstlers mit dem Bildverständnis der asiatischen Tuschmalerei und dessen kultureller Grundlage, denn seit vielen Jahren wirkt er als Gastprofessor und Gastkünstler an der Hochschule für Kunst und Design im chinesischen Nanjing. Und schließlich sollte man nicht Dieter Haists Faszination für den russischen Suprematismus übersehen, insbesondere für Zeichnungen und grafische Serien von Lissitzky, aber auch für das Werk von Malevich und Tatlin.
Die Art und Weise, wie diese Orientierungen in Dieter Haists neue Serie „Form und Leere“ eingegangen sind, ist keinesfalls in einem eklektischen Sinne zu lesen. Es handelt sich vielmehr um eine spannende, entscheidende Transformation. Diese hat sich auf der Grundlage der bisherigen Arbeit des Künstlers ergeben, das hierarchische Verhältnis zwischen Figur und Grund, das im Rahmen jeglicher perspektivischen Wahrnehmung – auch jenseits der Zentralperspektive – nur schwer zu umgehen ist, künstlerisch neu anzugehen. Die von Distanz geregelte gewöhnliche Beziehung von Subjekt - dem Künstler und ihm folgend den Betrachtern - und Objekt - dem Bild der Wahrnehmung - wird hierbei für einen Augenblick suspendiert, erfährt eine Passage in ein neuartiges Zugleich. Form und Leere lösen sich aus der Wahrnehmung als hervorgehobene Figur und zurücksinkender Grund. Das Bild als Medium wird zu einem Interface im strikten Wortsinn. Das Erblicken wechselt nicht mehr die Rollen zwischen Subjekt und Objekt, kontrollierender Distanz und hypnotischer Magie. Vielmehr entsteht ein ‚Dazwischen’, in dem sich beide in einer schwebenden Balance begegnen, getragen von dem, was das Interface des Bildes auslöst, jedoch selber nicht fassbar ist, weil es sich jeglicher taktilen Bemächtigung, auch der des Auges, entzieht.
Für einen Zugang zu diesem Neuartigen von Dieter Haists Beziehung von Form und Leere bietet sich zunächst eine Beschreibung der Besonderheiten seines bildnerischen Verfahrens an. Klärend können hier auch einige Vergleiche mit früheren Arbeiten des Künstlers, sowie mit den Referenzfeldern seiner Kunst hinzugezogen werden.
Nehmen wir stellvertretend für die gesamte Serie zunächst „Blank Patterns 01“. Während die schwarze Tusche sich mit dem Atem einer behutsamen Langsamkeit zu lichtdurchlässigen, amorphen Formen ausbreitet, markieren entschieden geometrische Linien und minutiöse Flächen in blauer, roter und grüner Acrylfarbe eine gewisse zeitliche Dynamik, im Eindringen, im Bedrängen eines Rands, oder im Durchqueren einer – gespaltenen – Tuscheform. Das dritte Formelement, so paradox es zunächst klingen mag, ist die Leere, die geometrische Schnitte in den Raum der Formen setzt und dadurch zugleich, zweites Paradox, Schnitte in ihre eigene Leere, die für einen Moment als geformter Raum erscheinen mag. Der Schnitt der Leere in die große Tuschform könnte als eine flüchtige Unterschneidung gesehen werden. Die virtuelle Form der Leere löst sich jedoch in ihrer eigenen Umgebung wieder auf, zumal die zwei Teile der Tuschform sich nicht wie Passstücke wieder zusammensetzen lassen. Zudem lässt sich nicht entscheiden, ob die Formsuggestion der Leere sich den Rändern der Tuschform verdankt, oder einer dynamischen Eigenaktivität der Leere. Es entsteht dadurch eine schwebende Balance zwischen der Formungsenergie der Formen und derjenigen der Leere. Dies gilt für sämtliche Beziehungen auf der Zeichnung, so auch für die in eine weite Kurve übergehende Linie, die vom linken Bildrand über das Zentrum hinweggeht, bevor sie mit einer vertikalen Brechung auf ein kleines Dreieck weiter unten zielt. Für einen Moment erzeugt sie so die Öffnung einer Falte in der Leere, wodurch diese sich, wie bei den Schnitten, räumlich manifestiert. Diese Verfestigung löst sich jedoch im Übergang zu einer hauchfeinen Zartheit der Tuschlinie, die sich in der ungreifbaren Leere verliert, ihre Fortsetzung jedoch pointiert im Sprung eines winzigen grünen Bruchstücks über die Leere hinweg erfährt, ein Sprung, der ein Echo seiner Dynamik in einem kleinen roten Fadengewirr findet.
Ist Leere Form, und Form Leere? Oder sind dies nur zwei verschiedene Zustände ein und derselben Sache, so wenig von einander zu trennen wie Teilchen und Welle, oder, noch aktueller, wie Materie und Energie in einem String-Universum? Betrachten wir die Sache erst einmal vor der Folie eines spezifischen Aspekts der traditionellen chinesischen Tuschmalerei.
Seit alters findet die Leere als Gegen-, Mitspieler oder andere Seite der Form hier eine eindrucksvolle Repräsentanz, wie sie im Westen unvorstellbar gewesen wäre. In Landschaften mit einem träge dahinfließenden Strom beispielsweise wird seit den Zeiten der Tang Dynastie, unserem Frühmittelalter, die Oberfläche eines Flusses oder Sees allein aus den landschaftlichen Umgebungsformen konfiguriert. Die Wasserfläche selbst bleibt leer. Jedoch diese Leere – und da geht auch heutzutage noch ein illuminierter Glanz selbst über jedes Gesicht eines chinesischen Kunststudenten – ist zugleich Form. Die Oberfläche des formlosen Wassers erscheint in einem spiegelnden Glanz, wie ihn nur die Reflexion atmosphärischen Lichts auf dem fernen Wasser als natürlichem Bildträger erzeugen kann. Reicht der Weg des Flusses bis zum Horizont, so wird dieser nicht als schneidende Grenze markiert, sondern verliert sich im fernen Dunst eines stofflich nicht eigens bezeichneten Himmels. Einen Horrorvacui, eine Angst vor der Leere, hat die chinesische Tuschmalerei nicht gekannt. Und ohne Formen schließen zu müssen vor der Leere, sind für jeden Chinesen die kalligraphischen Schriftzeichen ihrer Sprache immer noch lesbar als Bilderschrift, nicht nur als phonetischer Klang eines Zeichens.
Dieter Haist hat sich auf diese Idee einer Beziehung von Form und Leere, wie sie in der Tradition der chinesischen Tuschmalerei und Kalligraphie gegenwärtig ist, eingelassen. Jedoch ist er nicht dem Zwang verfallen, aus dieser Faszination ein nachahmendes künstlerisches Credo zu machen. Eine derartige Flucht aus den historischen Bedingungen der eigenen Erfahrungen, Basis seiner persönlichen Auseinandersetzung mit Form und Leere, hätte in einem Shangri-La-Kitsch geendet. Die Unterschiede in der Herangehensweise an das Problem von Form und Leere in der westlichen und fernöstlichen Kunst fallen sofort ins Auge. Jeder Chinese würde sich angesichts der Fragmentierung der Formen, der Brüche und Schnitte, wie sie die Serie der Blank Patterns zeigen, wundern und mit Recht diese Eigentümlichkeiten, diese Zerrissenheit als typisch westlich bezeichnen. – Verfolgen wir daher den Strang dieser westlichen Ästhetik weiter anhand der Serie „Form und Leere“.
Bei allen Zeichnungen der Blank Patterns spürt man einen fernen Nachklang des russischen Suprematismus. Die Formen schweben in einer Suspension der Schwerkraft im Bildraum, tauchen aus dem Nirgendwo des Blattrands ins Bildfeld und setzen sich über die Leere des Blattgrunds hinweg in dynamische, jedoch lose oder fragmentarische Beziehungen zueinander. Gelöst von jeglichem tragenden Boden, werden kantige Formgrenzen geneigt oder übereck gestellt, in Winkeln unterschiedlicher Grade zur Senkrechten und Waagerechten des Bildrands.
Levitationen im freien Flug durch eine kosmische ‚Leere’ sind uns aus dem russischen Suprematismus vertraut. Aber dort, beispielsweise in Lissitzkys Proun-Blättern, setzen sich immer geometrische Flächen zu Formen – konstruktivistisch – zusammen, wobei sie mit einem Vertauschen von Oberfläche und Tiefe, Aufsicht und Untersicht spielen. Neuartige Flugkörper oder Raumstationen, sind sie als solche jedoch immer zusammen-hängende Gebilde, und – vor allen Dingen: sie gehen mit optimistischer Selbstverständlichkeit von der Präsenz des Raumes aus. Der Raum ist als etwas kosmisch Unumstößliches vorausgesetzt. Darin folgen auch die revolutionärsten Konstruktionen der alten Unterscheidung von Körperraum und Freiraum, die ersteren als Unterbrechung von letzterem versteht und den Zusammenhalt der konstruktivistischen Körperräume nicht in Frage stellen muss. Mit selbstbewusster Selbstverständlichkeit besetzen diese als Form die Mitte des Blattfelds, oder beziehen sich auf diese Mitte optimistisch in einem Spannungsfeld.
Es gibt bei Lissitzky eine einzige, erstaunliche Ausnahme, ein Blatt betitelt „Ängstliche“ von 1923. Innerhalb der geometrischen Anspielungen auf eine Interieur Situation, Frau mit Spiegel, greift ein Leerraum in der Mitte, einen weiblichen Rock suggerierend, geisterhaft substanzlos über seinen Ort im Bild hinaus und verliert sich in der unbesetzten Leere des Zeichenblatts – vielleicht die Kehrseite jener revolutionären Dynamik, deren historische Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft die Künstler des Suprematismus mit ihrer Arbeit teilen und befördern wollten. Dieser grenzenlose ‚Leerefleck’ im Bild der „Ängstlichen“, es mit einem Oxymoron zu sagen, mag bei Dieter Haist gezündet haben für seine generelle Umkehrung und Neu-Untersuchung des Verhältnisses von Form und Leere. Er mag aber auch sich der Wahrnehmung erst aufdrängen, wenn man sich in Haists zeitgenössischer Arbeit mit Form und Leere eingesehen hat.
Anders als bei den Künstlern der russischen Revolution, besetzt in seiner Serie nirgends eine Konfiguration von Formen souverän das Zentrum. Es sind alles bedachtsame Kompositionen mit leerer, schwach besetzter, oder un-ausgemachter Mitte, und alle Formen sind - auch das ein Unterschied zum russischen Suprematismus - Bruchstücke, Fragmente, die ‚etwas’ – die Leere – zwischen sich gelten lassen, vielleicht auch aushalten müssen. Bei längerer Betrachtung entsteht der Eindruck, der Blick werde umgekehrt, seine fokussierende Energie suspendiert, einer pausierenden Nach-Innen Gerichtetheit weichend, ausgelöst durch das Ritardando, das von den Zonen weich und verlangsamt verlaufender Tusche und Acrylfarben ausgeht, wie bei der Erwartung einer Passage in einen anderen Zustand. An dieser Erwartung haben auch die scharfen Schnitte Anteil, die von der Leere zwischen die Formen und in sie hinein getrieben werden. Der künstlerische Weg bis zur entscheidenden Rolle der geteilten Grenze zwischen Form und Leere lässt sich leichter auf der Folie früherer Arbeiten von Dieter Haist verstehen. Daher sei ein kurzer Verweis auf diese interpoliert.
In seiner Serie „Wit“, Zeichnungen mit Grafit und Ölkreide, schweben im leeren Raum des Blattes einige wenige zarte Linien, Quadratpunkte, aus der Leere flüchtig wie Meteorite in die Bildfläche eintauchende Formen, und manchmal hauchzarte Linien und Flächen aus Grafit. Mit den wenigen Formen und Linien auf den Blättern entsteht wie aus dem Nichts eine Schwingung zwischen Oberfläche und Tiefe. Die Leere des Blattgrunds nimmt dadurch eine ungreifbare stoffliche Gegenwart an, vergleichbar dem Resonanzraum in zeitgenössischer raumbezogener Musik. Bei den zartesten Blättern könnte man an Cage’s Études Australes denken, in denen mittels langer Pausen zwischen den einzelnen Klängen Stille fühlbar wird.
Ein einziges Blatt der Serie trägt einen Titel, „Clown“, und es wechselt zwischen dem Effekt, ein menschliches Profil mit kecker Clownsnase erkennen und herausheben zu wollen, und dem Sich-Einlassen auf das Beziehungsgefüge der Formen, das die Leere als ungreifbaren Raum aktiviert. In diesen Blättern jedenfalls wird schon die Formenergie der Leere in der Konstellation der marginalen Formen berührt, die ihr Raum geben.
Was in der Wit-Serie eher eine lyrische Note hatte, erhält in der neuen Serie „Form und Leere“ ein vergleichsweise eher dramatisch erscheinendes Gewicht. Wenn man von einem Drama sprechen könnte, so erfährt dies doch eine erstaunliche Wandlung bei ausdauernder, semi-passiver Betrachtung. Die Blätter selber sind nicht schnell hin gewischt, im Gestus eines „Quod erat demonstrandum“. Manchmal sind sie in wenigen Tagen entstanden, manchmal benötigte es ein längeres Eintauchen in den kreativen Prozess, zumal der Zeichner selbst kein vorgefertigtes inneres Bild hat und an der subtilen Balance der Interaktion von Form und Leere im Nachhinein nichts revidieren kann.
Der Betrachter seinerseits kann nicht mit der Verschlusszeit eines Lidschlags die Blätter in sich aufnehmen, und ebenso wenig in einem aktiven Prozess des abtastenden Lesens, bei dem sich am Ende ein Zusammenhang ergäbe. Zwar ist ein ausdauerndes intensives Studium der Blätter die Voraussetzung für den eigentümlichen Akt der Wahrnehmung, der sich auf dieser Grundlage ganz plötzlich einstellen kann, aber nicht sich herbeizwingen lässt. Versucht man jedoch die Aufmerksamkeit in einer Art Blickwechsel, statt auf einzelne Formen, auf die Leere zu richten, wird man bemerken, dass der gerichtete Blick einem passiveren weicht, in dem die Formgrenzen mit ihren Schnitten, Leerstellen und sich im Blattgrund auflösenden Rändern die Leere des Blattgrunds in ein atmendes Medium verwandeln, einen Raum, an dessen Schwingung die Formen Anteil haben. In einem Nunc stans, einem Simultané werden Form und Leere eins - und dieser Raum beginnt von sich aus zu leuchten und zu klingen.
Hamburg im März 2015
Pausieren im Schwingungsraum
Prof. Dr. Ursula Panhans-Bühler
In der hier vorgelegten Serie von Zeichnungen mit China-Tusche und Acrylfarbe auf mild weißem Bütten Papier sucht Dieter Haist eine überraschende Passage im Verhältnis von künstlerischer Form und Bildträger. Diese basiert einerseits auf seiner langjährigen Erprobung möglicher Varianten der Spannungsbeziehung zwischen Fläche und Raum, der Interaktion von bildnerischen Zeichen und Bildfläche, wie sie zum Fundament der klassischen Moderne geworden war, die traditionell zentralperspektivische Ordnungen dieser Beziehung auf unterschiedliche Weise produktiv in Frage gestellt hatte. Andererseits wurde die Passage ausgelöst durch die Erfahrung des Künstlers mit dem Bildverständnis der asiatischen Tuschmalerei und dessen kultureller Grundlage, denn seit vielen Jahren wirkt er als Gastprofessor und Gastkünstler an der Hochschule für Kunst und Design im chinesischen Nanjing. Und schließlich sollte man nicht Dieter Haists Faszination für den russischen Suprematismus übersehen, insbesondere für Zeichnungen und grafische Serien von Lissitzky, aber auch für das Werk von Malevich und Tatlin.
Die Art und Weise, wie diese Orientierungen in Dieter Haists neue Serie „Form und Leere“ eingegangen sind, ist keinesfalls in einem eklektischen Sinne zu lesen. Es handelt sich vielmehr um eine spannende, entscheidende Transformation. Diese hat sich auf der Grundlage der bisherigen Arbeit des Künstlers ergeben, das hierarchische Verhältnis zwischen Figur und Grund, das im Rahmen jeglicher perspektivischen Wahrnehmung – auch jenseits der Zentralperspektive – nur schwer zu umgehen ist, künstlerisch neu anzugehen. Die von Distanz geregelte gewöhnliche Beziehung von Subjekt - dem Künstler und ihm folgend den Betrachtern - und Objekt - dem Bild der Wahrnehmung - wird hierbei für einen Augenblick suspendiert, erfährt eine Passage in ein neuartiges Zugleich. Form und Leere lösen sich aus der Wahrnehmung als hervorgehobene Figur und zurücksinkender Grund. Das Bild als Medium wird zu einem Interface im strikten Wortsinn. Das Erblicken wechselt nicht mehr die Rollen zwischen Subjekt und Objekt, kontrollierender Distanz und hypnotischer Magie. Vielmehr entsteht ein ‚Dazwischen’, in dem sich beide in einer schwebenden Balance begegnen, getragen von dem, was das Interface des Bildes auslöst, jedoch selber nicht fassbar ist, weil es sich jeglicher taktilen Bemächtigung, auch der des Auges, entzieht.
Für einen Zugang zu diesem Neuartigen von Dieter Haists Beziehung von Form und Leere bietet sich zunächst eine Beschreibung der Besonderheiten seines bildnerischen Verfahrens an. Klärend können hier auch einige Vergleiche mit früheren Arbeiten des Künstlers, sowie mit den Referenzfeldern seiner Kunst hinzugezogen werden.
Nehmen wir stellvertretend für die gesamte Serie zunächst „Blank Patterns 01“. Während die schwarze Tusche sich mit dem Atem einer behutsamen Langsamkeit zu lichtdurchlässigen, amorphen Formen ausbreitet, markieren entschieden geometrische Linien und minutiöse Flächen in blauer, roter und grüner Acrylfarbe eine gewisse zeitliche Dynamik, im Eindringen, im Bedrängen eines Rands, oder im Durchqueren einer – gespaltenen – Tuscheform. Das dritte Formelement, so paradox es zunächst klingen mag, ist die Leere, die geometrische Schnitte in den Raum der Formen setzt und dadurch zugleich, zweites Paradox, Schnitte in ihre eigene Leere, die für einen Moment als geformter Raum erscheinen mag. Der Schnitt der Leere in die große Tuschform könnte als eine flüchtige Unterschneidung gesehen werden. Die virtuelle Form der Leere löst sich jedoch in ihrer eigenen Umgebung wieder auf, zumal die zwei Teile der Tuschform sich nicht wie Passstücke wieder zusammensetzen lassen. Zudem lässt sich nicht entscheiden, ob die Formsuggestion der Leere sich den Rändern der Tuschform verdankt, oder einer dynamischen Eigenaktivität der Leere. Es entsteht dadurch eine schwebende Balance zwischen der Formungsenergie der Formen und derjenigen der Leere. Dies gilt für sämtliche Beziehungen auf der Zeichnung, so auch für die in eine weite Kurve übergehende Linie, die vom linken Bildrand über das Zentrum hinweggeht, bevor sie mit einer vertikalen Brechung auf ein kleines Dreieck weiter unten zielt. Für einen Moment erzeugt sie so die Öffnung einer Falte in der Leere, wodurch diese sich, wie bei den Schnitten, räumlich manifestiert. Diese Verfestigung löst sich jedoch im Übergang zu einer hauchfeinen Zartheit der Tuschlinie, die sich in der ungreifbaren Leere verliert, ihre Fortsetzung jedoch pointiert im Sprung eines winzigen grünen Bruchstücks über die Leere hinweg erfährt, ein Sprung, der ein Echo seiner Dynamik in einem kleinen roten Fadengewirr findet.
Ist Leere Form, und Form Leere? Oder sind dies nur zwei verschiedene Zustände ein und derselben Sache, so wenig von einander zu trennen wie Teilchen und Welle, oder, noch aktueller, wie Materie und Energie in einem String-Universum? Betrachten wir die Sache erst einmal vor der Folie eines spezifischen Aspekts der traditionellen chinesischen Tuschmalerei.
Seit alters findet die Leere als Gegen-, Mitspieler oder andere Seite der Form hier eine eindrucksvolle Repräsentanz, wie sie im Westen unvorstellbar gewesen wäre. In Landschaften mit einem träge dahinfließenden Strom beispielsweise wird seit den Zeiten der Tang Dynastie, unserem Frühmittelalter, die Oberfläche eines Flusses oder Sees allein aus den landschaftlichen Umgebungsformen konfiguriert. Die Wasserfläche selbst bleibt leer. Jedoch diese Leere – und da geht auch heutzutage noch ein illuminierter Glanz selbst über jedes Gesicht eines chinesischen Kunststudenten – ist zugleich Form. Die Oberfläche des formlosen Wassers erscheint in einem spiegelnden Glanz, wie ihn nur die Reflexion atmosphärischen Lichts auf dem fernen Wasser als natürlichem Bildträger erzeugen kann. Reicht der Weg des Flusses bis zum Horizont, so wird dieser nicht als schneidende Grenze markiert, sondern verliert sich im fernen Dunst eines stofflich nicht eigens bezeichneten Himmels. Einen Horrorvacui, eine Angst vor der Leere, hat die chinesische Tuschmalerei nicht gekannt. Und ohne Formen schließen zu müssen vor der Leere, sind für jeden Chinesen die kalligraphischen Schriftzeichen ihrer Sprache immer noch lesbar als Bilderschrift, nicht nur als phonetischer Klang eines Zeichens.
Dieter Haist hat sich auf diese Idee einer Beziehung von Form und Leere, wie sie in der Tradition der chinesischen Tuschmalerei und Kalligraphie gegenwärtig ist, eingelassen. Jedoch ist er nicht dem Zwang verfallen, aus dieser Faszination ein nachahmendes künstlerisches Credo zu machen. Eine derartige Flucht aus den historischen Bedingungen der eigenen Erfahrungen, Basis seiner persönlichen Auseinandersetzung mit Form und Leere, hätte in einem Shangri-La-Kitsch geendet. Die Unterschiede in der Herangehensweise an das Problem von Form und Leere in der westlichen und fernöstlichen Kunst fallen sofort ins Auge. Jeder Chinese würde sich angesichts der Fragmentierung der Formen, der Brüche und Schnitte, wie sie die Serie der Blank Patterns zeigen, wundern und mit Recht diese Eigentümlichkeiten, diese Zerrissenheit als typisch westlich bezeichnen. – Verfolgen wir daher den Strang dieser westlichen Ästhetik weiter anhand der Serie „Form und Leere“.
Bei allen Zeichnungen der Blank Patterns spürt man einen fernen Nachklang des russischen Suprematismus. Die Formen schweben in einer Suspension der Schwerkraft im Bildraum, tauchen aus dem Nirgendwo des Blattrands ins Bildfeld und setzen sich über die Leere des Blattgrunds hinweg in dynamische, jedoch lose oder fragmentarische Beziehungen zueinander. Gelöst von jeglichem tragenden Boden, werden kantige Formgrenzen geneigt oder übereck gestellt, in Winkeln unterschiedlicher Grade zur Senkrechten und Waagerechten des Bildrands.
Levitationen im freien Flug durch eine kosmische ‚Leere’ sind uns aus dem russischen Suprematismus vertraut. Aber dort, beispielsweise in Lissitzkys Proun-Blättern, setzen sich immer geometrische Flächen zu Formen – konstruktivistisch – zusammen, wobei sie mit einem Vertauschen von Oberfläche und Tiefe, Aufsicht und Untersicht spielen. Neuartige Flugkörper oder Raumstationen, sind sie als solche jedoch immer zusammen-hängende Gebilde, und – vor allen Dingen: sie gehen mit optimistischer Selbstverständlichkeit von der Präsenz des Raumes aus. Der Raum ist als etwas kosmisch Unumstößliches vorausgesetzt. Darin folgen auch die revolutionärsten Konstruktionen der alten Unterscheidung von Körperraum und Freiraum, die ersteren als Unterbrechung von letzterem versteht und den Zusammenhalt der konstruktivistischen Körperräume nicht in Frage stellen muss. Mit selbstbewusster Selbstverständlichkeit besetzen diese als Form die Mitte des Blattfelds, oder beziehen sich auf diese Mitte optimistisch in einem Spannungsfeld.
Es gibt bei Lissitzky eine einzige, erstaunliche Ausnahme, ein Blatt betitelt „Ängstliche“ von 1923. Innerhalb der geometrischen Anspielungen auf eine Interieur Situation, Frau mit Spiegel, greift ein Leerraum in der Mitte, einen weiblichen Rock suggerierend, geisterhaft substanzlos über seinen Ort im Bild hinaus und verliert sich in der unbesetzten Leere des Zeichenblatts – vielleicht die Kehrseite jener revolutionären Dynamik, deren historische Hoffnungen auf eine neue Gesellschaft die Künstler des Suprematismus mit ihrer Arbeit teilen und befördern wollten. Dieser grenzenlose ‚Leerefleck’ im Bild der „Ängstlichen“, es mit einem Oxymoron zu sagen, mag bei Dieter Haist gezündet haben für seine generelle Umkehrung und Neu-Untersuchung des Verhältnisses von Form und Leere. Er mag aber auch sich der Wahrnehmung erst aufdrängen, wenn man sich in Haists zeitgenössischer Arbeit mit Form und Leere eingesehen hat.
Anders als bei den Künstlern der russischen Revolution, besetzt in seiner Serie nirgends eine Konfiguration von Formen souverän das Zentrum. Es sind alles bedachtsame Kompositionen mit leerer, schwach besetzter, oder un-ausgemachter Mitte, und alle Formen sind - auch das ein Unterschied zum russischen Suprematismus - Bruchstücke, Fragmente, die ‚etwas’ – die Leere – zwischen sich gelten lassen, vielleicht auch aushalten müssen. Bei längerer Betrachtung entsteht der Eindruck, der Blick werde umgekehrt, seine fokussierende Energie suspendiert, einer pausierenden Nach-Innen Gerichtetheit weichend, ausgelöst durch das Ritardando, das von den Zonen weich und verlangsamt verlaufender Tusche und Acrylfarben ausgeht, wie bei der Erwartung einer Passage in einen anderen Zustand. An dieser Erwartung haben auch die scharfen Schnitte Anteil, die von der Leere zwischen die Formen und in sie hinein getrieben werden. Der künstlerische Weg bis zur entscheidenden Rolle der geteilten Grenze zwischen Form und Leere lässt sich leichter auf der Folie früherer Arbeiten von Dieter Haist verstehen. Daher sei ein kurzer Verweis auf diese interpoliert.
In seiner Serie „Wit“, Zeichnungen mit Grafit und Ölkreide, schweben im leeren Raum des Blattes einige wenige zarte Linien, Quadratpunkte, aus der Leere flüchtig wie Meteorite in die Bildfläche eintauchende Formen, und manchmal hauchzarte Linien und Flächen aus Grafit. Mit den wenigen Formen und Linien auf den Blättern entsteht wie aus dem Nichts eine Schwingung zwischen Oberfläche und Tiefe. Die Leere des Blattgrunds nimmt dadurch eine ungreifbare stoffliche Gegenwart an, vergleichbar dem Resonanzraum in zeitgenössischer raumbezogener Musik. Bei den zartesten Blättern könnte man an Cage’s Études Australes denken, in denen mittels langer Pausen zwischen den einzelnen Klängen Stille fühlbar wird.
Ein einziges Blatt der Serie trägt einen Titel, „Clown“, und es wechselt zwischen dem Effekt, ein menschliches Profil mit kecker Clownsnase erkennen und herausheben zu wollen, und dem Sich-Einlassen auf das Beziehungsgefüge der Formen, das die Leere als ungreifbaren Raum aktiviert. In diesen Blättern jedenfalls wird schon die Formenergie der Leere in der Konstellation der marginalen Formen berührt, die ihr Raum geben.
Was in der Wit-Serie eher eine lyrische Note hatte, erhält in der neuen Serie „Form und Leere“ ein vergleichsweise eher dramatisch erscheinendes Gewicht. Wenn man von einem Drama sprechen könnte, so erfährt dies doch eine erstaunliche Wandlung bei ausdauernder, semi-passiver Betrachtung. Die Blätter selber sind nicht schnell hin gewischt, im Gestus eines „Quod erat demonstrandum“. Manchmal sind sie in wenigen Tagen entstanden, manchmal benötigte es ein längeres Eintauchen in den kreativen Prozess, zumal der Zeichner selbst kein vorgefertigtes inneres Bild hat und an der subtilen Balance der Interaktion von Form und Leere im Nachhinein nichts revidieren kann.
Der Betrachter seinerseits kann nicht mit der Verschlusszeit eines Lidschlags die Blätter in sich aufnehmen, und ebenso wenig in einem aktiven Prozess des abtastenden Lesens, bei dem sich am Ende ein Zusammenhang ergäbe. Zwar ist ein ausdauerndes intensives Studium der Blätter die Voraussetzung für den eigentümlichen Akt der Wahrnehmung, der sich auf dieser Grundlage ganz plötzlich einstellen kann, aber nicht sich herbeizwingen lässt. Versucht man jedoch die Aufmerksamkeit in einer Art Blickwechsel, statt auf einzelne Formen, auf die Leere zu richten, wird man bemerken, dass der gerichtete Blick einem passiveren weicht, in dem die Formgrenzen mit ihren Schnitten, Leerstellen und sich im Blattgrund auflösenden Rändern die Leere des Blattgrunds in ein atmendes Medium verwandeln, einen Raum, an dessen Schwingung die Formen Anteil haben. In einem Nunc stans, einem Simultané werden Form und Leere eins - und dieser Raum beginnt von sich aus zu leuchten und zu klingen.
Hamburg im März 2015